Was ist wahr, was Fiktion? Neues Buch von Agnes Bidmon
- 15.05.2025
- Allgemein

Prof. (FH) PD Dr. Agnes Bidmon mit ihrem neuen Buch Dokufiktionales Erzählen.
Was ist noch echt – und was schon Fiktion? In Zeiten von Fake News, KI-Inhalten und dem Wunsch nach Authentizität wird diese Frage immer drängender und die Grenzen verschwimmen zusehends. Prof. (FH) PD Dr. Agnes Bidmon widmet sich in ihrem neuen Buch dem dokufiktionalen Erzählen – einem Grenzbereich zwischen Wirklichkeit und Erfindung.
Dokufiktionales Erzählen – Narrative Liminalität in der Gegenwartsliteratur heißt das Werk, das Mitte März im Handel erschienen ist. Der Begriff Dokufiktion ist in den vergangenen Jahren in Film, Fernsehen und Literatur zu einem regelrechten Erfolgslabel avanciert. Dabei bleibt oft unklar, was genau darunter zu verstehen ist. Genau hier setzt Agnes Bidmon, Professorin (FH) für Kulturmanagement & Kulturwissenschaften im Studiengang Sport-, Kultur- & Veranstaltungsmanagement (SKVM) an der FH Kufstein Tirol, an – mit dem Ziel, das dokufiktionale Erzählen erstmals systematisch zu fassen.
Ein Phänomen unserer Zeit
Im Gespräch mit der Kulturwissenschaftlerin wird deutlich: Die Auseinandersetzung mit dokufiktionalen Erzählstrategien ist keine rein akademische Fingerübung. Vielmehr wurzelt sie in gesellschaftlichen Umbrüchen und kulturellen Veränderungen, die seit Mitte der 2010er Jahre rasant an Fahrt aufgenommen haben. Die Brexit-Kampagne, der US-Präsidentschaftswahlkampf 2016, Fake-News-Debatten und die zunehmende Verbreitung von Deepfakes – all das habe zur Fragestellung beigetragen, wie in Erzählungen – und zwar sowohl in literarischen als auch in audiovisuellen – überhaupt noch zwischen Fakt und Fiktion unterschieden werden könne.
Objektivität ist ein Mythos.
Agnes Bidmon
Professorin (FH) für Kulturmanagement & Kulturwissenschaften
Bidmon verweist im Interview auf poststrukturalistische und postmoderne Theorien, die die Idee einer objektiven Wahrheit längst infrage gestellt haben. Stattdessen gelte es zu analysieren, mithilfe welcher Mechanismen und Erzählstrategien Medieninhalte Authentizität beanspruchen – und wie wir als Rezipient:innen darauf reagieren.
Keine Gattung, sondern eine Erzählweise
Eine zentrale These des Buchs: Dokufiktion ist keine eigenständige literarische oder filmische Gattung, sondern eine spezifische Erzählweise. Sie kann in ganz unterschiedlichen Medien auftreten, und sie operiert mit Strategien, die sowohl aus dem fiktionalen als auch aus dem faktualen Repertoire stammen. Von Mocumentaries über hybride Texte mit eingefügten Fotos bis hin zu literarischen Montagen aus Protokollen und Archivmaterial: Die Ausdrucksformen sind vielfältig, die Übergänge fließend.
Besonders spannend ist, wie Bidmon darlegt, dass es nicht nur um das bewusste Vermischen von Fakt und Fiktion geht, sondern auch um die Art der Darstellung. Wenn beispielsweise ein Text wie ein Gerichtsprotokoll wirkt, in alter Schreibmaschinenschrift daherkommt und Namen geschwärzt sind, entsteht beim Publikum der Eindruck, es handle sich um ein authentisches Dokument – auch wenn alles frei erfunden ist. „Schrift ist ein ontologisch indifferentes Medium“, erklärt Bidmon. „Sie sieht immer gleich aus, egal ob das, was sie vermittelt, wahr ist oder nicht.“
Zwischen Aufklärung und Verführung
Gerade deshalb sieht Bidmon auch eine ethische Verantwortung im Umgang mit dokufiktionalem Erzählen. Wenn Literatur, Filme oder Serien historische Ereignisse oder Biografien aufgreifen, müsse klar sein, dass eine vollständige, objektive Darstellung kaum möglich ist – und dass Interpretationen, Leerstellen und narrative Brüche Teil der Erzählung sind. Das könne sowohl aufklärerisch wirken als auch täuschen – je nach Zielsetzung des Werks und abhängig davon, ob die Erzählung eine andere Wahrheit etablieren oder eine vermeintlich bekannte torpedieren will.
Besonders sensibel zeigt sich die Literatur laut Bidmon dann, wenn es um die Shoah oder den Holocaust geht. In diesem Kontext, so erklärt sie, existiere im deutschsprachigen Raum eine klare moralische Grenze: Verfremdung, spielerische Fiktionalisierung oder gar Kitsch würden hier von vielen als unangemessen empfunden. Die Debatten um umstrittene Werke wie Stella von Takis Würger unterstreichen das.
Was das Publikum glaubt, liegt bei ihm
Spannend ist auch der Rollenwechsel des Publikums: Denn es entscheidet letztlich selbst, wie glaubwürdig eine Geschichte erscheint. Je nach Medienkompetenz, Vorerfahrung und Erwartungshaltung kann ein dokufiktionaler Text völlig unterschiedlich gelesen werden. Dass das Publikum mit dieser Verantwortung häufig überfordert ist, zeigt sich besonders dann, wenn populäre Produktionen wie Bohemian Rhapsody oder The Crown als nahezu dokumentarisch wahrgenommen werden, obwohl sie deutliche fiktionale Elemente enthalten.
Für Bidmon liegt die Herausforderung der Zukunft daher in der Stärkung von Ambiguitätstoleranz: der Fähigkeit, Mehrdeutigkeit auszuhalten, Widersprüche zu erkennen und sich ein differenziertes Urteil zu bilden – gerade in einer Zeit, in der Informationsflüsse immer komplexer und manipulativer werden.
Forschung, die den Zeitgeist trifft
Mit Dokufiktionales Erzählen liefert Agnes Bidmon nicht nur ein fundiertes wissenschaftliches Werk, sondern auch ein hochaktuelles Plädoyer für mehr Reflexion im Umgang mit Medien und Narrativen.
Sie analysiert ein kulturelles Phänomen, das längst Teil unseres Alltags geworden ist – vom Instagram-Filter bis zum Netflix-Biopic. Und sie tut dies mit einer beeindruckenden methodischen Tiefe, die sowohl Literaturwissenschaftler:innen als auch Kultur- und Medieninteressierte ansprechen dürfte.
Links:
- Dokufiktionales Erzählen – Narrative Liminalität in der Gegenwartsliteratur | transcript Verlag - kann hier bestellt werden
- Sport-, Kultur- & Veranstaltungsmanagement | vz